Die Klassenspaltung in Bremen verschärft sich von Jahr zu Jahr

"Soziale Ungleichheit im Raum in Bremen ist nachweisbar bei: Steuerpflichtigem Einkommen und Verschuldung, Sozialleistungsbezug (u.a. SGB II 15-65; SGB II U15; SGB II Alleinerziehende, SGB XII Ü65), Bildung (u.a. Sprachförderquote, Förderquote Inklusion, Schulabschlüsse unterhalb mittlerer Schulabschluss, Abiturientenquote), Gesundheit (u. a. schulrelevante Vorerkrankungen, Kinderärztedichte, Krebsinzidenz, Lebenserwartung), Politische Teilhabe (Wahlbeteiligung), Wohnen (Wohnfläche je Einwohner, Mietbelastungsquote)." Zitiert aus einem Vortrag von René Böhme auf der 4. Bremer Armutskonferenz am 05.02.2020: Die Spaltung der Stadt Bremen - Soziale Ungleichheit und ihre Folgen.

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Kinderarmut bremen    alleinerziehende nach ortsteilen 2019

Grafiken: R. Bohnenberger,  Quelle: Statistisches Landesamt Bremen

Nur kurz währte das Ende März verkündete "Sozialschutzpaket". Seit dem 1. Oktober 2020 ist es vorbei mit der Kulanz gegenüber den Betroffenen. Leistungen könne zwar noch online bis Ende Dezember beantragt werden, denn "Arbeitsagenturen" und "Jobcenter" arbeiten weiterhin nur eingeschränkt oder sind gar nicht zugänglich. Jetzt geht es aber wieder los mit der Härte gegenüber den angeblich selbstverschuldet in Notlagen Geratene. Angesparte Rücklagen werden wieder geprüft. Eine Mietwohnung wird wieder nach den "errechneten Kosten der Unterkunft (KDU)" als  "zu groß" oder "zu teuer" deklariert und Druck in Richtung Umzug gemacht.

Die höheren Miet- und Nebekostenbelastungen müssen vom ohnehin elenden Hartz IV beglichen werden, und alle im Haushalt, auch die Kinder, geraten in Mithaftung. Ende vergangenen Jahres mussten rund 550.000 Hartz-IV-Haushalte durchschnittlich 82 Euro monatlich aus ihrem mageren Regelsatzbudget draufzahlen, weil die Miete über der Obergrenze lag. Wieder müssen alle jahrelang angesparten Reserven, wie z.B. eine Lebensversicherung, "aufgegessen" werden, bevor es Unterstützung gibt.

Haben sich die Notlagen verbessert ? Eher das Gegenteil ist der Fall, die Arbeitslosigkeit und die Insolvenzzahl von Soloselbständigen steigt. Das ficht diese "Sozial"politikerInnen nicht an. Sanktionieren dürfen die Jobcenter bereits seit dem 1. Juli wieder in vollem Umfang. Sanktionen wurden trotzdem, entgegen der Weisung, verhängt. Im April wurden bundesweit insgesamt 26.000 neue Kürzungsstrafen gegen 21.000 Hartz-IV Bezieher ausgesprochen. Im Mai mussten insgesamt noch 40.000 Menschen und ihre Angehörigen mit einer abgesenkten Grundsicherung leben. Hartz IV, die daran angelehnte Sozialhilfe und die niedrigeren Asylbewerberleistungen gelten als physisches und soziokulturelles Existenzminimum. Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom November 2019 dürfen die Behörden diese Leistungen um höchstens 30 Prozent kürzen. Schlimm genug, aber zuvor waren Sanktionen bis zu 100 Prozent für jeweils drei Monate möglich. Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren sowie ausländische Leistungsbezieher waren laut BA-Statistik seit Jahren überproportional von dieser Brutalität mit nachfolgender drohender Wohnungslosigkeit betroffen. Das kann getrost als staatliche Kindeswohlgefährdung bezeichnet werden, und das von einem Staatswesen, dass voller Doppelmoral gleichzeitig über die Hereinnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz debattiert und noch scheinheiliger gleichzeitim im "Lockdown" Schulen und Kindergärten komplett abriegelte?

Eine rechtstaatlich gesicherte aufschiebende Wirkung bei Widerspruch gegen all diese Hartz IV Willkürmaßnahmen gab und gibt es nicht; was Job-Center MitarbeiterInnen verfügen, wird sofort exekutiert und muss erduldet werden. Diese Grundgesetz widrige Praxis gilt nun schon seit 2005. Die mutige Inge Hannemann (Buch: Die Hartz IV Diktatur), Arbeitsvermittlerin im Jobcenter Hamburg, weigerte sich, solche Menschenrechte verletzenden Sanktionen weiter zu verfügen, und wurde von der Behörde aus ihrem Arbeitsplatz "entfernt".

Am 31.08.2020 hat der Paritätische Gesamtverband eine Expertise veröffentlicht, mit dem Titel: Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Lebens mit Hartz IV . Alle fünf Jahre ist der Gesetzgeber gefordert, das menschenwürdige Existenzminimum neu zu ermitteln. In dieser Expertise wird die Frage der Bedarfsdeckung in den Mittelpunkt gestellt: Reichen die Grundsicherungsleistungen für soziale und kulturelle Teilhabe?

Wie der Paritätische erläutert, werden in der Expertise

  • die Grundsicherungsleistungen in ihrer relativen Höhe analysiert. Gefragt wird: Reichen die durchschnittlichen Leistungen aus, um Einkommensarmut der Leistungsberechtigten zu verhindern? In einem weiteren Schritt wird der Abstand der Leistungen zur Armutsrisikoschwelle analysiert („Armutslücke”).
  • In einem zweiten Kapitel wird folgende Frage analysiert: Inwieweit ist mit Hartz IV eine angemessene Ernährung sichergestellt? Die Sicherstellung einer angemessenen Ernährung – die Vermeidung von Hunger und Unter- oder Fehlernährung – ist eine der vordringlichen Aufgaben der Grundsicherung, da sie die physische Existenz berührt.
  • In einem dritten Kapitel werden Hartz IV beziehende Haushalte in Bezug auf verschiedene Aspekte der sog. materiellen Entbehrung untersucht und mit Haushalten oberhalb der Hartz-IV-Schwelle verglichen. Die Leitfrage lautet: Was fehlt bei Hartz-IV-Leistungsberechtigten? Bei welchen Aspekten des täglichen Lebens spüren Hartz-IV-Leistungsberechtigte besondere Defizite? Die Analyse der Ausstattung der Haushalte insgesamt gibt darüber hinaus einen Hinweis auf den „Entwicklungsstand eines Gemeinwesens”.

Es wird dabei nachgewiesen, dass Mangelerfahrungen in den Hartz-Sätzen fest verankert sind. Die sog. Regelbedarfe - wie Wohn- und Heizkosten – lagen 2018 bei einem Single-Haushalt bei etwa 770 Euro. Die Armutsschwelle (Mikrozensus) ist bei 1.035 Euro definiert. Die sog. Armutslücke lag somit  2018 bei 265 Euro. Ein Vergleich der Jahre  2010 und 2018 enthüllt zudem eine wachsende Armutslücke; denn 2010 betrug die sog. "Armutslücke" noch 192 Euro. Hartz IV Bezieher werden immer weiter abgehängt.