Der SGB VIII Gesetzentwurf (KJSG) liegt nun vor - ein Angriff auf die Kinder- und Jugendhilfe !

franziska giffey portrait(von Rodolfo Bohnenberger) Der  Gesetzentwurf zur D(R)eformierung des seit 1991 geltenden Sozialgesetzbuch 8 (SGB VIII) mit dem Orwellschen Titel "Kinder und Jugendstärkungsgesetz" (KJSG) wurde nun vom Regierungskabinett mitten im Lockdown und zur Adventszeit (ein Schelm der Böses ahnt) am 02.12.2020 vorgelegt. Hier findet sich eine Synopse und viele kritische Stellungnahmen dazu. Das Scheinbeteiligungsverfahren im Vorfeld dieser Gesetzesinitiative endet für die meisten Beteiligten mit einer herben Enttäuschung. Die vielen eingereichten kritischen Anregungen, Hinweise und Stellungnahmen von Fachleuten, Verbänden und Gewerkschaften wurden ignoriert. Familienministerin Giffey (SPD), die gerade ihren Doktortitel zurückgab, weil der Verdacht sich immer weiter erhärtete, sie hätte darin abgeschrieben, hinterlässt ein schales Vermächtnis, bevor sie nun versucht, sich in die Berliner Landespolitik zu retten als Spitzenkanditatin für die SPD um den Bürgermeisterposten.

Ihre zwei SPD-Vorgängerinnen waren beim ersten stümperhaften Anlauf mit dem KJSG im Herbst 2017 krachend gescheitert (im Bundesrat). Manuela Schwesig wechselte (allerdings auch gesundheitlich bedingt) in den Posten der Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern, für Katarina Barley gab es eine sinnvolle Verwendung als Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments.

Nun "unter Corona" soll der immer noch völlig unzulängliche neue (und in Vielem alte) Entwurf durchgeboxt werden? Wir sollten unsere Volksvertreter*innen im Bundestag und Bundesrat und ihr Abstimmungsverhalten dabei genau im Auge behalten. Dieser Gesetzentwurf greift die bisherige, von der sog. "Lebensweltorientierung" geprägte, Kinder- und Jugendhilfe an und begegnet den Familien und Fachkräften mit Misstrauen und staatlicher Anmaßung.

Schlimm genug für die eigentlich Betroffenen: an den desolaten Lebensbedingungen der Familien und Kinder verbessert sich nichts. Das genau wäre aber die beste Voraussetzung für die präventive Förderung der Entwicklung von Kindern und ihrer Eltern. Stattdessen erleben wir seit 25 Jahren eine massive Ausweitung von Familienarmut, von prekären Lebens-, Wohnungs-, Schul- und Arbeitsverhältnissen. Dazu haben wir in dieser WEB-Seite einige gute Beiträge online gestellt: z.B. hier und hier.  Aber es kommt noch herber in dem Gesetzentwurf:

  • Angebote der Jugendhilfe werden künftig schwieriger zu erreichen sein, sollte der Entwurf so durchkommen.
  • Rechte von Familien, Kindern und Jugendlichen werden beschnitten: die sog. präventiven Angebote im Sozialraum entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Scheinangebote, die den Zweck haben, Unterstützung suchende Eltern und Jugendliche abzuwimmeln und woanders hinzuverweisen.
  • Das im alten Kinder- und Jugendhilfegesetz fest verankerte Wunsch- und Wahlrecht (das Recht, die Art der Angebote und den passenden Träger selbst zu wählen) wird eingeschränkt. Familien werden es künftig schwerer haben ihre jeweilige, passende, individuelle Unterstützung zu bekommen.
  • Diffuse und billigere Gruppenangebote in Schule, Familienzentren und "Sozialraum" sollen nun als Ersatz für individuelle Rechtsansprüche auf Unterstützung herhalten.
  • Junge Volljährige werden es künftig schwerer haben, Unterstützung zu bekommen; das alte KJHG war für die Altersgruppe bis 27 Jahre definiert. Gerade hier wäre viel Unterstützung notwendig, wenn wir uns die steigende Jugendarbeitslosigkeit und die horrend hohen Zahlen von jungen Menschen ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildungsabschluss anschauen.
  • Da viele Jugendhilfe-Angebote ohne Fachkräfte, auch auf ehrenamtlicher Basis, ermöglicht werden sollen, wird das Fachkräftegebot und die Qualität der Arbeit noch weiter unterhöhlt. Dieser Prozess läuft schon länger. Nicht zuletzt auch durch die Untergrabung kritisch-wissenschaftlicher Standards im Studium. Beginnend mit den Bologna D(R)eformierungen (Bachelor und Master), dann über "Drittmittelprostitution" (Hochschulen wurden gezwungen, private Gelder einwerben) und das Duale Studium, dann über Privatisierung ganzer Hochschulen und Ausbildungsgänge und nun ganz verheerend mit der umfassenden Digitalisierung und dem Zwangs-Onlinestudium für alle.
  • Familien stellt man im neuen Gesetz unter den Generalverdacht, potentielle Kindeswohlgefährder zu sein, weshalb sog. "Kinderschutzmeldungen" beim Jugendamt (mit angedrohter Herausnahme der Kinder aus den Familien) erleichtert werden sollen. Dafür soll es sogar Geld geben, für einzelne Berufsgruppen.

Kinderschutz war nach dem alten SGB VIII von 1991 von einem Geist des Vertrauens und der Unterstützung von Familien, Eltern und Kindern geprägt (auch wenn leider zunehmend nicht mehr so gelebt in der Praxis), mit vorgelagerten niedrigschwelligen Beratungs- und Freizeiteinrichtungen als allgemein präventives Fundament für Eltern und Kinder in familiären Notlagen. Dieses Paradigma der sog. "Lebensweltorientierung" floss seitens einer kritischen Sozialarbeiterbewegung 1970 bis 1989 in der Kritik am repressiven Jugendwohlfahrtsgesetz (dem Nachfolger des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes) in das 1990/91 neugeschaffene  Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ein.

Die präventiven Einrichtungen wurden in den letzten 20 Jahren unter dem Regiment der Schuldenbremse als vernachlässigbare „freiwillige Leistungen“ vielfach "kaputtgespart". Nun soll die staatliche Eingriffsorientierung weiter ausgebaut und gesetzlich fixiert werden. Die geplante Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz könnte zusätzlich missbraucht werden, um im Namen der Kinder, die Elternrechte noch weiter einzuschränken und staatliche Ersatzerziehung an ihre Stelle zu setzen. Dabei würde u.a. der Geist des Artikel 6 des Grundgesetzes beschädigt, in dem - nach den Erfahrungen mit dem Faschismus - den Eltern das Erziehungsrecht "zuvörderst" übertragen wurde und der Staat bewusst nachrangig (im Falle des Versagens der elterlichen Sorge) helfen und notfalls eingreifen soll.

Wir sollten den Bundestagsabgeordneten aus unseren jeweiligen Wahlkreisen Protestmails schreiben und sie auffordern, diesem KJSG Gesetzentwurf nicht zuzustimmen, die vielen kritischen Anregungen der letzten Monate ernst zu nehmen und in ein völlig neues Reformvorhaben einfließen zu lassen. Es gäbe viel unterstützenswerten Reformbedarf, so fordert ver.di z.B.:

  • quantitative und qualitative Aufwertung der Leistungen (§§ 11, 13 und neu Schulsozialarbeit), auf die keine individuellen Rechtsansprüche bestehen,
  • Klarstellung und Sicherung der Verbindlichkeit der örtlichen Jugendhilfeplanung
  • Festigung und Klarstellung des Fachkräftegebotes
  • Formulierung von Rechtsansprüchen auf inklusive Leistungen zur Absicherung von Mindeststandards, um eine fachgerechte und rechtskonforme Leistungserbringung zu gewährleisten
  • Sicherung des Fachkräftebedarfs im Sinne der Qualitätssicherung der Hilfen und Angebote.
  • Und: Keine Leistungsvergabe an Träger ohne Tarifbindung.