Offener Brief an die Gedenkstätte Lager Sandbostel

Die Ausstellung zum Gedenken an die Hungerblockade von Leningrad 1941-1944 „Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen“, die vom 8.9.-7.10.2025 in der Gedenkstätte Lager Sandbostel (GLS) hätte stattfinden sollen, ist nach 2 Tagen durch die Leitung der GLS abgebrochen worden: Begründung: die Rede unseres Vorsitzenden Wolfgang Müller bei der Vernissage (s. Leningrad-Ausstellung gecancelt).

Zu diesem Vorgang hat der Bremer Verleger, Historikers und der Friedenspreisträger Helmut Donat einen Offenen Brief veröffentlicht, den wir im folgenden dokumentieren (Verein „Deutsch-Russische Friedenstage Bremen e. V.“):

Offener Brief an den Leiter der Gedenkstätte Sandbostel,
Herrn Andreas Ehrmann,

15. September 2025

Sehr geehrter Herr Ehrmann,

Ihre Entscheidung, die Ausstellung des Vereins „Deutsch-Russische Friedenstage e.V. Bremen“ über die „Blockade Leningrads 1941-1944“ nicht weiter zu zeigen und damit den Blicken der interessierten Öffentlichkeit zu entziehen, ist anmaßend, hält der Kritik nicht stand und stellt einen Anschlag auf die Meinungs- und Gedankenfreiheit dar. Das gilt ebenso für Ihre Behauptung, in der Eröffnungsrede seien Vergleiche und Analogien gezogen, die „historisch
falsch“ seien. Des Weiteren sprechen Sie von der Rechtfertigung eines Krieges durch die Ausstellung.

Ich habe die Rede von Wolfgang Müller, dem Vorsitzenden der „Deutsch-Russischen Friedenstage“, gelesen und die Ausstellung gesehen. Weder kann ich die von Ihnen erhobenen Vorwürfe darin finden noch nachvollziehen. Nicht zuletzt auch wegen der Schwere Ihrer Anschuldigungen fordere ich Sie auf, einen genauen Nachweis zu erbringen und mir sowie der Öffentlichkeit mitzuteilen. An welcher Stelle der Ausstellung wird z.B. der Rechtfertigung eines Krieges das Wort geredet?

Es berührt mich zudem mehr als unangenehm, dass Sie u.a. auch die Nichtübereinstimmung mit Ihren Positionen und Auffassungen als Begründung für Ihre Entscheidung anführen. Soll das heißen, dass der Besucher der Gedenkstätte Sandbostel, wenn er Ihre Ansichten und Standpunkte nicht teilt oder Ihnen widerspricht, seine Kritik und Meinung an der Kasse abgeben soll?

Sie signalisieren mit Ihrer Wortwahl eine Illiberalität, die Andersdenkende ausgrenzt und als unseriös verunglimpft. Wenn sich unterschiedliche oder entgegengesetzte Auffassungen nicht vereinbaren lassen, so ist das noch lange kein Grund, den Widerpart auszuladen oder ihm die rote Karte zu zeigen.

Die Gedenkstätte ist eine öffentliche Einrichtung, und es stellt einen Missbrauch Ihres Bildungsauftrages dar, wenn Sie Personen, Vereinigungen etc., nur weil sie Ihnen nicht genehme oder unerwünschte Ansichten vertreten oder Empfindungen äußern – und solange sie weder zur Gewalt aufrufen noch beleidigend werden – aussperren. Sie maßen sich damit ein Recht an, dass Ihnen weder zusteht noch einem offenen Diskurs über das Für und Wider von Krieg und Frieden förderlich ist.

Ihr Verhalten liegt politisch auf der Ebene der Würdigung von dezidierten Bellizisten, die Friedenspreise erhalten, weil – so die uralte und reaktivierte Glaubensformel – nur Kriegstüchtigkeit den Frieden garantiere. In diesem Zusammenhang sei an Folgendes erinnert:

Im März 1914 erklärte Kaiser Wilhelm II.: „Ich als Militair hege nach allen Meinen Nachrichten nicht den allergeringsten Zweifel, dass Russland den Krieg systematisch gegen uns vorbereitet, und danach führe ich meine Politik.“
Als im April 1914 der „Vorwärts“, Zentralorgan der SPD, die Agrarier und die kaiserliche Zollpolitik für die wirtschaftliche und politische Verstimmung zwischen Deutschland und Russland verantwortlich machte, wurde ihm vorgeworfen, er betreibe eine Art „auf den Kopf gestellten Nationalismus“ sowie einen „Chauvinismus zugunsten des Auslands“ nebst „Selbsterniedrigung“.

Im Juni 1914 forderte der Führer der Deutschkonservativen Partei Ernst von Heydebrand und der Lasa in einer Rede, dem russischen Nachbarn, weil dieser nur die Sprache der Gewalt verstehe, rücksichtslos entgegenzutreten; das Verhältnis zu Russland sei nicht mehr das, was es einmal war. Originalton: „Wir hier wissen, was das für uns einmal bedeuten kann.“

Im Juli 1914 sagten die deutschen Generäle ihrem Reichskanzler, in drei bis vier Jahren habe man den eigenen Rüstungsvorsprung gegenüber Russland verloren, also müsse man den noch bestehenden Vorteil jetzt nutzen und losschlagen. Dreißig Jahre später, als die NS-Propaganda bei der Olympiade in Berlin noch die Friedensschalmei blies, hieß es im August 1936 in der „Denkschrift“ Hitlers zum „Vierjahresplan“:

1. Die Sowjetunion bereitet einen Krieg gegen Europa vor.
2. Die deutsche Armee muss in vier Jahren einsatzfähig sein.
3. Die deutsche Wirtschaft muss in vier Jahren kriegsfähig sein.

Persönlich überreicht [von Adolf Hitler] an Hermann Göring am 2. September 1936 auf dem Obersalzberg.

Heute wird die Drohkulisse aufgebaut und verbreitet, Putin-Russland werde in vier Jahren so weit sein, Westeuropa anzugreifen, und es bliebe uns nichts anderes übrig, als uns kriegsbereit und -tüchtig zu machen. Mit solchem Schüren von Ängsten bereitet man den Boden für eine gespenstische Aufrüstung, instrumentalisiert den Ukrainekrieg für eine bespiellose Militarisierung der Gesellschaft und erklärt vollmundig, die Orientierung am „Nie wieder Krieg!“ habe ausgedient.

Ich frage Sie: Ist, wer daran Kritik übt, kein Gesprächspartner für Sie bzw. die Leitungsgremien der Gedenkstätte?

Ich fordere Sie auf, Ihre Entscheidung rückgängig zu machen, einen neuen Termin für die abgesagte Ausstellung zu planen und eine öffentliche Veranstaltung über das Für und Wider Ihrer Entscheidung durchzuführen, bei der die Kontrahenten gleichberechtigt vertreten sind.

Mit freundlichen Grüßen,

Helmut Donat
Verleger, Historiker und Träger des Carl von Ossietzky-Preises der Stadt Oldenburg