Über die Illusion eines Sozialen Europa innerhalb der herrschenden Institutionen

Martin Höppner, Politikwissenschaftler,  leitet am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung eine Forschungsgruppe zur Politischen Ökonomie der europäischen Integration.

An der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln ist Höpner außerplanmäßiger Professor.

Auszug eines Artikels (16.10.2018) von Martin Höpner im IPG Journal (Internationale Politik und Gesellschaft):

" Die progressiven Europadebatten sind voller Tabus und Mythen. Vorsicht ist geboten, wenn man sich in diese Debatten begibt. Es ist herausfordernd, die sozialen Wirkungen der europäischen Integration klar zu benennen und sich damit in Widerspruch zum Mythos vom Sozialen Europa zu begeben. Am Ende steht man schnell ungewollt als EU-Gegner da. Ohne den Mythos vom Sozialen Europa kommt im sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Spektrum kaum eine Rede zum Thema daher.

Das Soziale Europa kann empirisch oder prognostisch gemeint sein. Wahrscheinlich stimmen Sie mir zu, dass der Begriff als Zustandsbeschreibung der Europäischen Union nicht wirklich passt. Dafür ist in den vergangenen ein bis zwei Dekaden einfach zu viel passiert, von den Eingriffen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in das Streikrecht (die Fälle Viking und Laval) über die Unterwerfung der öffentlichen Infrastruktursektoren unter das europäische Wettbewerbsrecht bis hin zur sozialen Kahlschlagpolitik der Troika in Südeuropa. Die europäische Gleichstellungspolitik, oft und nicht zu Unrecht als Beispiel für eine sozial wünschenswerte EU-Politik genannt, kann das alles kaum aufwiegen.

Ist das Soziale Europa im Entstehen begriffen? Nein, hierfür gibt es keine Anzeichen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Die EU könnte sozialere Wirkungen entfalten, als sie es heute tut. Das ist kein Mythos und ich werde noch darauf zurückkommen. Ein Mythos ist hingegen, dass uns, so wie es die Feiertagsreden nahelegen, „mehr Europa“ dem Sozialen Europa näher bringt. Diese traditionelle Erzählung hat über die Jahre ihren Sinn verloren und bleibt dennoch ein hartnäckiger Bestandteil sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Selbstvergewisserung."

 

Gerade weil uns EUROPA wichtig ist, sollten wir die jetzigen EU-Institutionen kritisieren.

(von Rodolfo Bohnenberger, Jan. 2019)

Die Ideen des radikalen Wirtschaftsliberalen Friedrich August von Hayek (1899-1992), Gründer der neoliberalen "Mont Pelerin Society", standen Pate bei der Herausbildung der jetzigen undemokratischen Institutionen und der Finanzpolitik der Europäischen Union.

Die Hayek’schen Ideen einer deutlich eingeschränkten Fassaden-Demokratie zugunsten einer von "freien" Wirtschaftsinteressen dominierten Politik wurden in der Herausbildung der  Institutionen der Europäischen Union für die Interessen der Großkonzerne der Stahl-, Kohle-, Automobil-, Chemie- und Agrarindustrie, der Energie- und Wasserbranche u.a. perfekt umgesetzt. Liberalisierung möglichst grenzenloser Arbeitsmärkte über den sog. "europäischen Binnenmarkt", zunehmende Entregelung von Bank- und Finanzaktivitäten und die gesetzliche Absicherung der grenzüberschreitenden Freiheiten des Kapitals (incl. seiner legalisierten Bewegung in innereuropäische Steueroasen wie Holland, Luxemburg und Irland) sind kennzeichnend. Ein soziales Europa ist darin nicht vorgesehen, nicht umsetzbar und auch real nicht beobachtbar. Im Gegenteil: alle Versuche der Gewerkschaften und der Kräfte, die soziale Gerechtigkeit innerhalb der real exisitierenden Institutionen (EU und Euro) einfordern, sind unterm Strich in ihr Gegeteil umgeschlagen, die Peripherieländer der EU verarmen, die Kernländer (mit Deutschland als Hegemon) profitieren.

Das von 1979  bis 1998 relativ krisenresistente Europäische Währungssystem EWS, dass flexible nationale Währungsanpassungen zuließ und damit Außenhandelsungleichgewichte ausgleichen konnte, wurde fahrlässig abgeschafft. Ab dem 1. 1. 1999 wurde mit großem propagandistischen Pomp der Euro (mit einem währungspolitischen Zwangskorsett) eingeführt und mit der Europäischen Zentralbank die souveräne Geldschöpfungs-Handlungsfähigkeit der nationalen Zentralbanken praktisch abgeschafft. Eine demokratisch nicht legitimierte "Eurogruppe" (Treffen der Finanzminister) übernahm die autoritative Steuerung in Kooperation mit einer ebenfalls nicht von Europäer*innen gewählten Europäischen Kommission. Die sog. "Trioka" entfaltete in den Folgejahren ihre die europäische Idee von Frieden und Solidarität von innen erodierende Wirkung.

Wer den vorausgehenden, jahrzehntelangen ideologischen Kreuzzug neoliberaler Prägung (der Think Tank "Mont Pelerin Society" vorneweg) nicht kannte, für den führte die Regierungszeit von SPD und Grünen von 1998-2005 zur großen Desillusionierung. SPD, Grüne, garniert mit den Verschlimmbesserungen von CDU und FDP im Bundesrat, verhalfen den deutschen Kapitaleliten mit der "Agenda 2010", Hartz I, Hartz II, Hartz III und schließlich Hartz IV (Juli 2014 im Bundesrat beschlossen und zum 1.1.2005 in Kraft getreten) zu einer gigantischen, merkantilistisch geprägten Niedriglohnpolitik, auf Kosten der unteren Lohngruppen in Deutschland.

Dieser Konkurrenzvorteil (billiges deutsches "Humankapital") wirkte in Europa nun zum fast alleinigen Vorteil der dominierenden deutschen Exportindustrie. In den folgenden 12 Jahren wurde so "die deutsche Arbeitslosigkeit exportiert" (vgl. Flassbeck 2016), weil deutsche Exportprodukte mithilfe der niedrigeren Lohnquote gnadenlos Peripherie-Produkte auskonkurrierten und die Industrieproduktion von Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland auf Talfahrt schicken konnte. Die vor dem ersten Weltkrieg geborene Idee, eines von Deutschland dominierten Europa wurde nun auf perfidem , finanzpoitisch/wirtschaflichem Wege erreicht.

Nicht etwa wegen höherer Produktivität, mehr Erfindergeist oder effektiver arbeitenden Deutschen Unternehmen. Letzteres ist das gebetsmühlenartig wiederholte Mantra der deutschen Regierung und Mainstreampresse. Wie Flassbeck eindringlich belegt, lag die französische Produktivität und Innovationskraft sogar über der deutschen, geriet aber trotzdem ins Hintertreffen, weil französische Arbeiter*innen und ihre Gewerkschaften der Errichtung eines Niedriglohnsektors berechtigterweise Widerstand entgegensetzten, einen Widerstand, den wir uns hier in Deutschland auch vom DGB gewünscht hätten, statt mit dem "Kanzler der Bosse" zu paktieren. Macron versucht gerade das nun zu ändern und bekommt es dabei mit dem Volkszorn (Gelbwesten) zu tun.

Als Folge hoher Arbeitslosenraten (30-50% Jugendarbeitslosigkeit) in den Peripherieländern mussten/müssen zehntausende junge, gut ausgebildete Leute aus diesen Ländern in die deutsche Exportindustrie und die Medizin- und Pflegebranche migrieren, von der Arbeitsagentur noch befördert; ein fataler Brain-Drain für die Herkunftsländer. Die gefeierte deutsche "Exportnation" mit desaströsen Außenhandelsüberschüssen von 8,6 Prozent vom BIP, die einen jährlichen Überschuss von 310 Milliarden US-Dollar hervorbringt, ist das Gegenteil von europäischer Solidarität und Friedensicherung und vernichtet nebenbei noch von deutschen Niedriglöhnern Erwirtschaftetes im Ausland. (Die Schulden werden nicht zurückgezahlt werden können.) Die gefeierte deutsche "Exportnation" verelendet die Peripherie und schafft Unfrieden bis in die Kernländer Italien und Frankreich hinein und nimmt das Anwachsen rechter und rassistischer Politik billigend in Kauf; in Frankreich: Der "Front National" mit Le Pen, in Italien: "Forza Italia" mit Berlusconi, "Lega Norte" mit Matteo Salvini und  die sog. "Fratelli D'Italia".

Mit volkswirtschaftlicher Unkenntnis und ideologischen Scheuklappen wird Kritik an den jetzigen europäischen Institutionen, dem Eurosystem und deren wirtschaftsliberaler Politik als per se antieuropäisch diffamiert ohne zu merken, wie sehr diese Reaktion einer neoliberalen Propaganda aufsitzt. (Vgl. Martin Höpner und Martin Seeliger 2017, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung,  "Transnationale Lohnkoordination zur Stabilisierung des Euro? Gab es nicht, gibt es nicht, wird es nicht geben.")

In jahrzehntelangen sozialen Kämpfen errungene, halbwegs demokratische Einflussmöglichkeiten,  sozialstaatliche Standards und Wohlfahrtsstrukturen, sowie gewerkschaftlich erkämpfte Tarifsysteme in den Nationalstaaten werden mit Hilfe strenger europäischer Austeritätspakte („Sixpack“,„Twopack“, Fiskalpakt usw.) immer weiter ausgehebelt. Der Europäische Gerichtshof erdreistet sich immer häufiger, sogar in die Mitbestimmung und in die nationalen Tarifgestaltungen lohnsenkend einzugreifen. Das war von Beginn an der normale neoliberal geprägte, kapitalistische Vollzug und nicht etwa die Folge eines entarteten, turbokapitalistischen, globalisierten Heuschrecken-Kapitalismus (vgl. Müntefering u.a.).

„Die Sozialdemokraten sind Opfer des neoliberalen Globalisierungskonzeptes geworden, dem sie sich selbst weitgehend ergeben haben.“ – Peter Brandt, Sohn von Willy Brandt

(Dieser Beitrag ist unter Downloads auch als pdf Datei zu finden. Sehr aufschlussreich ist auch das Interview der Aachner Zeitung vom 30.04.2019 mit Fabio de Masi, der lange als Europaabgeordneter der Linken vor Ort Erfahrungen sammeln konnte.)