Überlegungen zur Ukraine-Kundgebung am 20.03.2022 auf dem Domshof

Friedensreiter 1648 W.RufflerEin Schreiben von Walter Ruffler an den DGB Vorsitzenden in Bremen

Lieber Kollege Harder[*],

als Gewerkschaftskollege (GEW) und ehemaliger langjähriger Lehrer beim Berufsfortbildungswerk des DGB bin ich gern Ihrem Aufruf zur Ukraine-Kundgebung am 20.03.2022 gefolgt. Wie Sie bin ich der Meinung, dass Putin "seinen Angriffskrieg beenden" muss und ein "Stopp der militärischen Gewalt" dringend erforderlich ist, wie es im Aufruf heißt.

Meine Erwartungen wurden allerdings bitter enttäuscht. Frau Przybyla vom Verein "Herz für die Ukraine" und Frau Tybinka, Generalkonsulin der Ukraine, forderten statt Waffenstillstand einen Luftkrieg der Nato gegen Russland und eine weitere Verschärfung der Sanktionen durch Stopp der Öl- und Gaslieferungen aus Russland. Die Konsulin machte darüber hinaus das russische Volk für den Krieg verantwortlich. Das ist keine Sprache der Deeskalation. Leider lieferte auch Bürgermeisterin Maike Schaefer keine Analyse der Ursachen des russischen Angriffs, sondern schlug in die gleiche Kerbe wie ihre Vorrednerinnen hinsichtlich der russischen Energielieferungen.

Ich halte eine Anklage des russischen Präsidenten vor einem unabhängigen internationalen Gericht für wünschenswert. Allerdings sollte dort auch eine lange Bank aufgestellt werden für jene Mitglieder der westlichen Wertegemeinschaft, die ebenfalls sehr kreativ mit dem Völkerrecht umgegangen sind - um jeden Hauch von Heuchelei, Selbstgerechtigkeit und doppelten Standards zu vermeiden. Darunter wären auf jeden Fall einige amerikanische Präsidenten, die andere Länder überfallen haben und auch deutsche Politiker und hunderte von Bundestagsabgeordneten, die die Nato-Kriege 1999 gegen Serbien und 2001 gegen Afghanistan verantworten.

Leider sind auch große Teile der deutschen Presse auf Konfrontationskurs gegen Russland eingeschwenkt, ein Beispiel der Kommentar von Katrin Pribyl "Mehr Präsenz" im Weser-Kurier vom 17.03.2022. Frau Pribyl fordert mehr Nato-Truppen an der ukrainischen Grenze und mehr Nato-Kriegsschiffe in der Ostsee. Ich leite Ihnen meinen Leserbrief an Frau Pribyl weiter [auf dieser WEB-Seite unter Leserbriefe verlinkt].

Zeitungsberichten zufolge ist Präsident Selenskyj bereit, auf eine Nato-Mitgliedschaft seines Landes zu verzichten. Genau das war die zentrale Forderung Putins zur Sicherheit Russlands. Hätte Selenskyj dies ein paar Wochen früher gesagt, wäre vermutlich die Invasion der russischen Armee nicht erfolgt. Natürlich hat der ukrainische Staat das Recht, sich militärisch gegen die Aggression zu verteidigen. Aber hat der ukrainische Präsident nicht auch eine Verantwortung gegenüber dem Leben der Zivilbevölkerung? Zeugt es wirklich von Verantwortungsbewusstsein, wenn er den Krieg in die Städte hereinholt, weil er sich einer offenen Feldschlacht nicht gewachsen fühlt? Offenbar hat er gerade einen Vorschlag der russischen Seite abgelehnt, den Kampf um Mariupol zu beenden, indem er seine Soldaten abzieht! Auf ähnliche Weise wurde der Kampf um Ost-Aleppo in Syrien beendet, indem die bewaffneten Rebellen in das Gebiet um Idlib abzogen und auf diese Weise der verbliebenen Zivilbevölkerung weiteres Unheil erspart blieb. Anders dagegen haben sich die Kämpfer des IS in Rakka (Syrien) und Mossul (Irak) verhalten, sie kämpften bis zu völligen Zerstörung der Städte durch die amerikanische Luftwaffe. Dem IS wurde vorgeworfen, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen.

Auf Ihren Hinweis hin habe ich mir die Übersetzung der ukrainischen Nationalhymne angeschaut, ein recht patriotisches Gedicht aus dem Jahre 1862 mit dem Refrain:
"Leib und Seele geben dahin wir für unsre Freiheit,
Und wir, Brüder, zeigen unsres Kosakenstamms Reinheit."
Und die zweite Strophe:
"Brüder, stehen auf für blutig' Schlacht vom San (= Fluss in Polen) bis zum Don" (= Fluss in Russland).

Erinnert das nicht an die 1. Strophe des Deutschlandliedes "von der Maas bis an die Mehmel"? Ist sowas noch zeitgemäß?
Und passt der Schlachtruf "Slawa Ukrajini" ("Ruhm der Ukraine") wirklich auf eine vom DGB moderierte Friedens-Veranstaltung?

Ich würde mich freuen, wenn der DGB sich weiterhin dem Ziel "Frieden schaffen ohne Waffen" verpflichtet fühlen würde.

Mit freundlichem Gruß
Walter Ruffler (21.03.2022)

* Ernesto Harder, Vorsitzender DGB Bremen, moderierte die Ukraine-Veranstaltung auf dem Bremer Domshof am 20.03.2022