Anmerkungen zum Kommentar "Mehr Präsenz" im Weser-Kurier vom 17.03.2022

Sehr geehrte Frau Pribyl,

Sie sind der Meinung, die Nato müsse klare Kante gegenüber Putin zeigen und und mehr Truppen an der Grenze aufmarschieren lassen und mehr Kriegsschiffe in der Ostsee. Sind Sie ernsthaft der Auffassung, dass er dann Angst bekommt, in sich geht und seine Armee aus der Ukraine zurückzieht?

Sie glauben, die Nato habe bisher zu zurückhaltend agiert, was Putin als "Schwäche" ausgelegt habe. Sie nennen u.a. einen "Einmarsch in Georgien". Dieses Beispiel wird häufiger in der Presse genannt, so fragt der ARD-Journalist Thomas Roth den russischen Präsidenten am 29.08.2008 (!) im Interview:
"Herr Ministerpräsident, nach der Eskalation in Georgien sieht das Bild in der internationalen Öffnentlichkeit so aus - damit meine ich Politik, aber auch Presse: Russland gegen den Rest der Welt. Warum habe Sie Ihr Land mit Gewalt in diese Situation getrieben?"
Wladimir Putin: "Was meinen Sie, wer hat den Krieg begonnen?"
Roth: "Der letzte Auslöser war der georgische Angriff auf Tschinwali" (Hauptstadt Südossetiens).

Der damalige georgische Präsident Saakaschwili hatte den Angriff seiner Armee auf Südossetien befohlen, die russische Armee hat den Südosseten geholfen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Wie kann man diesen Konflikt Putin in die Schuhe schieben?

Und die von Ihnen erwähnte "Annexion der Krim"? War da nicht was in Kiew Anfang des Jahres? Der gewaltsame Putsch nationalistischer Kräfte gegen den gewählten Präsidenten Janukowitsch war das Ergebnis eines vom Westen von langer Hand vorbereiteten und unterstützten "Regime Change".

Der "Westen" hatte schon den neuen Ministerpräsidenten bereit, die USA wollten Arsenjuk, die EU bevorzugten Klitschko, vermutlich weil er Deutsch spricht. Die USA setzten sich mit "Fuck the EU" - Victoria Nuland logischerweise durch. Der amerikanische Politiloge John Mearsheimer kam damals zu der Ansicht: "Warum der Westen an der Ukraine-Krise schuld ist" (siehe Anlage). Ihr Kollege Joerg-Helge Wagner hatte damals eine geniale Idee, das Volk auf der Krim und im Donbass über ihre Staatlichkeit entscheiden zu lassen, seinen Kommentar "Einheit um jeden Preis?" finden Sie im Anhang. Leider ging der Westen darauf nicht ein. Im Gegenteil, er unterstützte mit Waffen und Beratern die Anti-Terror-Operation Kiews, d.h. den Versuch der militärischen Rückeroberung der Rebellengebiete in Luhansk und Donezk, was bis dato 15.000 Menschenleben gekostet hat, hauptsächlich Zivilisten in den Rebellengebieten.

Das Minsker Abkommen von 2014 sah für den Donbass einen Autonomiestatus vor, doch weder Poroshenko noch Selenski haben irgendetwas unternommen, um eine entsprechende Verfassungsänderung der Ukraine auf den Weg zu bringen. Sie tragen eine Mitverantwortung für die derzeitige kriegerische Situation. Und auch der Westen, der nie auf Umsetzung dieses Abkommens gedrängt hat. Schon Jelzin war gegen die Aufnahme von osteuropäischen Ländern in die Nato, weil er darin eine strukturelle Beeinträchtigung der russischen Sicherheitsinteressen sah. Dennoch pirschte sich die Nato mit der Aufnahme der baltischen Staaten bis an die russische Grenze heran. Und leider sind die Regierungen der neuen osteuropäischen Nato-Staaten nicht immer mit den Regeln des Völkerrechts vertraut. So unterstützten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei und die Tschechische Republik 2003 den Angriffskrieg von George W. Bush gegen den Irak als eine "Koalition der Willigen". Die Nato bombardierte 1999 insgesamt 78 Tage lang in Serbien hauptsächlich die Infrastruktur und erkannte das abgetrennte Kosovo als selbstständigen Staat an - gegen alle russischen Proteste. Nach dieser Blaupause verfuhr Putin mit der Krim und unlängst mit den Rebellengebieten des Donbass. Er hatte in der Nato seinen Lehrmeister. Um den Kohl der Provokationen fett zu machen, bot die Nato der Ukraine und Georgien die Mitgliedschaft an. Ich finde, Politik und Presse vertreten hinsichtlich der Brüche des Völkerrechts durch den Westen und durch Russland ein gerüttelt Maß an Doppelmoral, das der Zeichner der Frankfurter Rundschau dem amerikanischen Präsidenten Obama nach der Annexion der Krim in den Mund legt: "Wir sind die Guten!" (Anlage)

In seiner Rede vom 21.Februar 2022 sagt Putin (und vermutlich hat er Recht):
"Die USA und die NATO haben damit begonnen, das ukrainische Territorium schamlos als Schauplatz möglicher Kriege zu erschließen. Die regelmäßigen gemeinsamen Übungen sind eindeutig antirussisch ausgerichtet. Allein im letzten Jahr waren mehr als 23.000 Soldaten und mehr als tausend Stück Militärtechnik daran beteiligt." Braucht es da wirklich noch mehr Nato-Kriegsschiffe in der Ostsee, wie Sie fordern?

Nachdem alle Sanktionen eher zu einer Verschärfung der Lage beigetragen haben, sollte man es mal anders herum probieren: Aufhebung sämtlicher Sanktionen gegen Russland, Stop der Waffenlieferungen an die ukrainische Armee, sofortiger Waffenstillstand, Garantie der Neutralität der Ukraine und Volksabstimmungen unter internationaler Kontrolle in den Oblasten Donezk und Luhansk über die staatliche Verfassung der Gebiete, Rückzug der russischen Truppen. Alles andere verlängert nur das Sterben und birgt die Gefahr einer beabsichtigten oder unbeabsichtigten Eskalation in sich.

Über eine Antwort würde ich mich freuen, mit freundlichem Gruß

Walter Ruffler (Bremen, 18.03.2022)