Warum das neue "Kinder- und Jugendstärkungsgesetz" von Familienministerin Giffey (SPD) eine Mogelpackung ist

(von Rodolfo Bohnenberger) Mit den Stimmen der CDU/SPD Regierungskoalition und der staatstragenden Grünen, bei Stimmenthaltung der FDP und gegen die Stimmen von Linksfraktion und AfD billigte eine Mehrheit der Abgeordneten am 22. April 2021 den von der Koalition eingebrachten Entwurf für ein sog. "Kinder- und Jugendstärkungsgesetz" (KJSG, 19/26107); der Bundesrat stimmte am 07.05.2021 dem im Bundestag verabschiedeten Gesetz zu, womit das neue SGB VIII (Sozialgesetzbuch 8, das Kinder- und Jugendhilfegesetz) rechtskräftig wurde.

Giffey MerkelDer Name dieses Gesetzes wird dem Inhalt nicht gerecht; teilweise ist es das Gegenteil davon, wie aus der Geschichte dieser Gesetzesinitiative ersichtlich wird. Vor 10 Jahren, am 13. Mai 2011, legten die „A-Staatssekretäre“ (A-Länder = SPD-regierte Bundesländer) ein Arbeitspapier vor, mit dem Titel „Wiedergewinnung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit zur Ausgestaltung von Jugendhilfeleistungen“, Untertitel „Änderungen des Kinder- und Jugendhilferechts (SGB VIII)“. Treibende Kraft hinter dieser Initiative war insbesondere der Hamburger SPD-Staatsrat Jan Pörksen (Behörde für Soziales, Familie, ...), der kurz zuvor, bis zum März 2011, noch strammer Haushaltsdirektor in Bremen war. Sein Einsatz wurde schließlich 2018 belohnt mit dem Posten des Chefs der Hamburger Senatskanzlei unter dem Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher.

Von Beginn äußerten Sozialarbeiter:innen, Gewerkschaften und Wissenschaftler:innen Kritik an diesen Plänen. Sie forderten:

  • Die Lebens- und Einkommensverhältnisse der Familien in ihren Quartieren sind zu verbessern; offene, niedrigschwellige Begegnungs- und Beratungsangebote ohne "Fallakte" sind auszubauen.
  • Der Abbau von allgemein präventiven Angeboten, als sog. "freiwillige Leistungen" deutschlandweit in den Kommunen unter Haushaltsvorbehalt gestellt, ist zu stoppen und umzukehren. Dazu ist wissenswert: das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ein Bundesgesetz, aber ohne verpflichtendes Bundesbudget. So werden die seit Jahren finanziell in die Enge getriebenen Kommunen zu umfangreichen Jugendhilfe-Leistungen verpflichtet und diese dabei in Konkurrenz gesetzt zu anderen, für die Menschen vor Ort wichtigen, kommunalen Notwendigkeiten. 
  • Die verschärften Armutsentwicklungen nach den SPD/Grünen Hartz I , II, III und IV Gesetzen (2003-2005), oftmals tiefere Ursache vieler familiärer Probleme, sind rückgängig zu machen.
  • Die Staatsschulden-Folgen der Privat-Banken-Rettungen im Zuge der Finanzkrise 2007-2009 sind von den reichen Profiteuren zu tragen. Sie dürfen nicht mithilfe der "Schuldenbremse" auf dem Rücken der von Jugendhilfemaßnahmen Betroffenen ärmeren Bevölkerungschichten ausgetragen werden.
  • Gesetzlich verbürgte Anspruchs-Rechte von Kindern und Eltern dürften nicht verwässert werden. Im Gegenteil: gerade Menschen in prekären Quartieren brauchen mehr Rechte und von ihnen selbst gestaltbare und einklagbare "Hilfen zur Selbsthilfe".
  • Ambulante Unterstützungen für Familien sind differenziert zu betrachten. Eingriffsorientierte, repressive und zu allem Überfluss auch noch teure Maßnahmen (z.B. Heimunterbringungen) dürfen nicht gegen sinnvolle, wirksame, in familiären Krisen stabilisierende, ambulante Angebote ausgespielt werden. Schon gar nicht dürfen sie pauschal als Verlust "kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit" verurteilt werden.
  • Der Ausbau kontrollorientierter und obrigkeitsstaatlicher Eingriffe (bis zu Herausnahmen der Kinder) gegenüber betroffenen Familien ist zu stoppen und umzukehren.

Nichts davon geschah. Im Gegenteil, die Armutslagen verschärften sich. Die Folge: 2010 waren insg. 95.205 Kinder und Jugendliche in Heimen untergebracht, 2016 waren es bereits 141.704.- Im Jahr 2019 waren 232.737 Kinder in Deutschland in verschiedenen Settings außerhalb ihrer Ursprungsfamilien "fremduntergebracht". Es gibt sicherlich Kinder, für die ein einvernehmlich gestalteter, neuer Lebensort in familienähnlichen oder Heimsettings sinnvoll ist. Aber die Aufblähung einer von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen profitierenden "Heimunterbringungsmaschinerie" ist nicht, auch nicht pädagogisch, zu vertreten; besonders nicht, wenn es einher geht mit der Zunahme (teil)geschlossener Settings, die sich erdreisten freiheitsentziehende Maßnahmen für Kinder als "optima Ratio" hochzujubeln und dies auch noch als "Erfolg" feiern. Deren Lobbygruppen nahmen übrigens, mit ihrer Verbändemacht, massiv Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess. - Auf dem digitalen Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag vom 18. - 20. Mai 2021 fand ein Fachforum des Aktionsbündnisses gegen Freiheitsentzug und geschlossene Unterbringung statt, in dem Kritiker der Geschlossenen Unterbringung sich bundesweit austauschen und vernetzen. www.geschlossene-unterbringung.de

In der Debatte um ein neues SGB VIII kam es kaum zu einer ernstgemeinten Berücksichtigung der Erfahrungen und der Forderungen von Familien und Sozialarbeiter:innen aus der Basis in ihren Lebensquartieren. Die von verschiedenen SPD Familienministerinnen (Manuela Schwesig, Katarina Barley und Franziska Giffey) 2013 bis 2021 durchgeführten Schein-Beteiligungen waren nicht im mindesten geeignet, konstruktive Gesetzesinitiativen im Interesse der Kinder und Familien in die Entwürfe einfliessen zu lassen. Eine Erfahrung, die viele basisdemokratische Initiativen machen mussten. Besonders erbärmlich erging es den seit Jahren abgebauten, niedrigschwelligen, offenen Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit (sog. "freiwillige Leistungen" wie Jugendhäuser, Häuser der Familie und Altenbegegenungsstätten), die unter fehlenden, einklagbaren Rechtsansprüchen leiden. Die entsprechenden §§ 11, 12 und 13 im SGB VIII der Jugedarbeit z.B. blieben unverändert; wohlklingend aber so entformalisiert und unkonkret, dass daraus keine Rechtsansprüche der jungen Menschen und Familien ableitbar sind.

Eine umfassende kritische Stellungnahme zu den Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe, bzw. zu den immer prekärer werdenden Lebensverhältnissen von Familien und Kindern/Jugendlichen findet sich hier zum Download; sie ist als offener Brief an alle Bremer Bürgerschaftsabgeordneten (noch vor der Beschlussfassung in Bundestag und Bundesrat) verfasst.

Der Debatte im Bundestag am 22.04.2021 lagen die unrühmliche Stellungnahme des Bundesrates und die Gegenäußerung der Bundesregierung zugrunde (19/27481, 19/28005 Nr. 5). Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte zuvor noch kurzfristige Änderungen am Entwurf vorgenommen (19/28870). 

Hier ist der LINK zur WEB-Seite des Bundestages, wo die 30 Minuten kontroverse Debatte am 22.04.2021 in der Mediathek verfolgt werden kann, sowie die abschließenden Gesetzestexte mit vielen "last minute" Änderungen. Der Bundesrat  hat am 07.05.2021 dem im Bundestag verabschiedeten Gesetz zugestimmt. Damit ist es nach Unterschrift durch den Bundespräsidenten und Veröffentlichung im Gesetzesblatt in Kraft. Eine umfassende Synopse (alt - neu) zur Reform SGB VIII steht hier zum Download bereit.