Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ – eine frühe Warnung oder nur eine SF-Geschichte von damals?

Aldous Huxley 1947(von Wolfgang Vormann) „Niemand ist hoffnungsloser versklavt als jene, die fälschlicherweise glauben, frei zu sein” hat Johann Wolfgang von Goethe schon vor 200 Jahren geschrieben. – Und ich höre in meiner Umgebung immer wieder „Uns geht’s ja noch gut! Man muss auch nicht immer alles so schwarz malen!“ oder noch schlimmer: „Mit meinem gesunden Menschenverstand und der regelmäßigen Tagesschau weiß ich schon was da draußen los ist. Alles andere sind ja doch nur Spinnereien und Verschwörungstheorien.“

Die meisten Leute glauben einfach, wir leben in einer freien Gesellschaft, denn um uns herum hier in den westlichen Industrieländern ist keine dystopische Hölle erkennbar.

Durch Filme und andere Formen der Unterhaltung bekommen wir ein bestimmtes Bild von dem, was man unter Tyrannei zu verstehen hätte: Sie ist offensichtlich und stets von Gewalt begleitet, man spürt sie, es wird gefoltert, der Machtapparat nutzt die Ängste der Massen aus, es gibt Spitzel, Geheimpolizei und Denunziationen. Aber Macht kann auch anders ausgeübt werden; so wie es sehr anschaulich in dem Roman von Aldous Huxley „Schöne neue Welt“ herausgearbeitet worden ist. Heute ist es doch so, dass Kommunikations- und Unterhaltungstechnologie, bestimmte Drogen, medialer Sex und Rock’n Roll und andere Annehmlichkeiten einen großen Teil der Bevölkerung ablenkt, damit er seine Fesseln nicht mehr wahrnimmt.

(Foto: AnonymousUnknown author, Public domain, via Wikimedia Commons)

Huxley hatte die Grundideen zu seinem Roman bereits 1931. Er wollte einen Zukunftsroman schreiben, aber er hat es dabei nicht in Betracht gezogen, dass Ansätze zu seiner Vision schon zu seinen Lebzeiten vorhanden waren. Dreißig Jahre später – nach dem zweiten Weltkrieg – änderte er seine Meinung. In einer Rede von ihm aus dem Jahr 1961 warnte er mit folgenden Worten: „There will be, in the next generation or so, a pharmacological method of making people love their servitude, and producing dictatorship without tears, so to speak, producing a kind of painless concentration camp for entire societies, so that people will in fact have their liberties taken away from them, but will rather enjoy it, because they will be distracted from any desire to rebel by propaganda or brainwashing, or brainwashing enhanced by pharmacological methods. And this seems to be the final revolution. (Huxley at Tavistock Group, California Medical School, 1961)“ („Es wird – vielleicht in der nächsten Generation oder so – eine pharmakologische Methode geben, die Leute dazu bringt ihre Knechtschaft zu lieben, und so eine Diktatur ohne Tränen hervor zu bringen. So zu sagen wird ein schmerzfreies Konzentrationslager für die gesamte Gesellschaft geschaffen werden, und obwohl die Leute faktisch ihre Freiheit aufgegeben haben werden sie den Zustand mögen, weil ihnen jeder Wunsch nach Rebellion durch Propaganda und Gehirnwäsche entzogen wird, oder durch Gehirnwäsche in Verbindung mit Pharmaka. Und dies könnte die letzte Revolution sein.“)

Gemäß Huxley wird es „zukünftig“ der herrschenden Klasse möglich sein, die Bevölkerung nicht nur durch den expliziten Gebrauch von Gewalt zu steuern, sondern auch durch „ein verdecktes Ertränken der Massen in nicht enden wollenden Versorgung mit angenehmen Ablenkungen.“ (Huxley)

Aber wie, könnte man sich fragen, wird Vergnügen benutzt, um Leute ihrer Freiheit zu berauben? Dazu sollte man sich zum Beispiel mit dem so genannten „operanten Konditionieren“ (benannt nach B. F. Skinner, 1904 – 1990, einem bekannten Psychologen und prominenter Vertreter des Behaviorismus) beschäftigen. Es handelt sich um Methoden der kontrollierten Verhaltensänderung. Skinners Experimente mit Ratten werden vielen Menschen geläufig sein. Es wurde auch schon viel darüber geschrieben, wie diese Experimente auf Menschen übertragbar sind, um ihre Rolle als abhängiges, unfreies Wesen zu akzeptieren. Zum Beispiel versuchte er in einer Serie seiner Experimente, ein neues Verhalten über „positive Verstärkung“ zu erzielen. Er gab den Ratten immer, wenn sie das beabsichtigte Verhalten zeigten, Futter zur Belohnung. In einem Vergleichsexperiment wurden sie bei Verweigerung des Dressurverhaltens bestraft. Skinner stellte natürlich fest, dass Bestrafung zu einer Verhaltensänderung im Sinne Skinners führen würde. Aber es beseitigte nicht die Motivation, das „Unerwünschte“ später dennoch zu versuchen. Andererseits war Verhalten, das über Belohnungsverstärkung erreicht wurde, andauernder und veränderte die langfristigen Verhaltensmuster der Versuchstiere.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Huxley Skinners Experimente kannte und sich die sozio-politischen Auswirkungen vorstellen konnte. In „Schöne neue Welt“ und seinem folgenden literarischen Schaffen sagte er, die Entstehung einer „steuernden Oligarchie“ (Huxley), die ähnliches Vorgehen mit Menschen machen würde, voraus. Dies würde zu Autoritätsgläubigkeit und minimaler Bereitschaft zu zivilem Ungehorsam führen.

Skinner stimmte dem zu, aber im Unterschied zu Huxley glaubte er, dass „operantes Konditionieren“ als eine Art Methode der angewandten Sozialwissenschaft zum Wohle der Menschheit eingesetzt werden könnte. Er nannte es „social engineering“ und nach seiner Meinung würde daraus ein von Wissenschaftlern projektioniertes Utopia entstehen können. Dabei war er aber keineswegs so naiv, dies als den einzigen Outcome anzusehen. In einem seiner Bücher enthüllt er nämlich außerdem, dass das Konditionieren von Massen in der Realität auch eine schädliche Form von Tyrannei ermöglichen würde. Eine Form, in der sich die Bevölkerung zwar frei fühlt, aber tatsächlich absolut fremdgesteuert agiert.

„Now that we know how positve reinforcement works, and why negative doesn’t, we can be more deliberate and hence more successful, in our cultural design. We can achieve a sort of control under wich the controlled .. nevertheless feel free. They are doing what they want to do, not what they are forced to do. That’s the source of tremendous power of positive reinforcement – there’s no restraint and no revolt. By a careful design, we control not the final behavior, but the inclination to behave – the motives, the desires, the wishes. The curious thing ist that in that case the question of freedom never arises. (Skinner, Walden Two)“ („Jetzt, wo wir wissen, wie positive Verstärkung wirkt, und warum negative eben nicht, können wir uns mehr Gedanken machen – und schließlich erfolgreich werden – bei der Gestaltung unserer Kultur. Wir können uns eine Art Steuerung leisten, unter der die Gesteuerten .. sich dennoch frei fühlen. Sie werden machen, was sie wollen, und nicht das wozu man sie zwingen müsste. Das ist die enorme Quelle der positiven Verstärkung – es gibt keine Verweigerungen und keine Revolten. Bei sorgfältiger Weiterentwicklung werden wir nicht das letztendliche Verhalten steuern, sondern die Neigungen zu einem bestimmten Verhalten – Motive, Sehnsüchte, Wünsche. Das Verrückte dabei ist, dass so die Frage nach Freiheit niemals auftauchen wird.“)

In Huxleys Roman wurde als wesentliche „Belohnung“ für die positive Verstärkung der Menschen eine Droge namens „Soma“ verwendet. Sie wurde systematisch an alle Untertanen verabreicht. Sie wurde „Ferien von der Wirklichkeit“ genannt, und erzeugte je nach Dosis angenehme Gefühle, Euphorie oder freundliche Sinnestäuschungen. Sie erhöhte auch die Beeinflussbarkeit der Bürger, was sowohl für politische Propaganda als auch für kommerzielle Werbung genutzt werden konnte. Aber die Machteliten des Romans verließen sich nicht allein auf die Droge Soma. Der Bevölkerung wurden etliche Angebote der Reizbefriedigung (etwa durch staatlich reglementierte Promiskuität) dargeboten. In einem Roman hat ein Schriftsteller natürlich alle Möglichkeiten, seine dystopische Welt schillernd auszumalen.

Auch in Huxleys Roman wird von den Herrschenden der Slogan verbreitet: „Gemeinsam schaffen wir das … unser Zusammenhalt ist das Wichtigste!“ – Tatsächlich wird in der Romanwelt aber von jedem erwartet, dass er familiäre Beziehungen und menschliche Nähe zugunsten von beruflichem / gesellschaftlichen Engagement opfert. Ein emotionaler Ausgleich wird über käuflich erwerbbare Unterhaltung (bei Huxley besonders im sexuellen Bereich) geschaffen.

Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? Auch wenn man dann außerdem analysieren kann, dass auch bei Huxley Nachrichtenmanipulation eine weitere wichtige Rolle spielt. Insbesondere das Schüren von Ängsten gegen Unbekanntes von außen (früher einmal die „bösen Kommunisten“ und heute zum Beispiel ein „Killervirus“) sind bei der Manipulation der Massen sehr hilfreich. Nachrichten- und Informationsverbreitung müssen einen eigenen Unterhaltungscharakter bekommen. Aufbereitete politische Meldungen müssen mit belanglosen Ergänzungen aus Sport, Freizeit und Unterhaltung versehen werden. Und sie müssen von ihrer Zielgruppe immer und überall aufgenommen werden können. Zu Huxleys Zeiten stellte man sich dabei eher riesige Laufschriftbänder an Hauswänden oder überdimensionale Bildschirme, wie wir sie von „public viewing“-Veranstaltungen kennen, vor. Tatsächlich werden heute fast alle Menschen zu Hause und auf der Straße von ihren Smartphones mit pausenlosem Informationsfluss versorgt; eine Technologie, die zu reflexionslosem und vergnügungssüchtigem Verhalten führen kann (und soll?)

Heutige science fiction Romane oder Filme, vor allem die amerikanischen Blockbuster, lieben es ebenfalls, eine düstere und gefährliche Zukunft zu schildern. Darin geht es aber meistens um den Kampf von heldenhaften Rebellen gegen eine tyrannische und gefährliche Übermacht in einer menschenunwürdigen Umgebung. – Huxley hat uns damals ein Szenario gezeichnet, das unserer heutigen Gesellschaft in vielen Details erschreckend nahe gekommen ist: eine „Schöne neue Welt“!

Quelle: teilweise sinngemäße Übernahme aus ‚Wikipedia‘ oder ‚academy of ideas‘
Bildquelle: Von Anonym - The Huxley Brothers. LIFE Magazine. 24 March, 1947., gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=57860658

Empfehlenswert zur Vertiefung ist die Arte Dokumentation von Philippe Calderon und Caroline Benarrosh (F 2017, 54 Min)